Geistlose missionale Pneumatologie

IGW hat wieder ein neues missionales Thesenpapier veröffentlicht. In einem Think-Tank wurden die Thesen diskutiert, ergänzt und überarbeitet. Wenn man aber diese Thesen sorgfältig studiert, wird man enttäuscht. Exemplarisch verdeutliche ich dies am 1. Artikel:

„Der Heilige Geist als Thema der Theologie verlangt eine ihm entsprechende Methode, nämlich Offenheit für sein Reden und Wirken. Diese Offenheit führt zu Erfahrungen und neuen Erkenntnissen, welche die gesamte theologische Arbeit beeinflussen und verändern. Eine Vernachlässigung der Lehre vom Heiligen Geist führt zu theologischen Einseitigkeiten. (Joh 3,8; Apg 10; 11,12 ff; 1. Kor 2,10)“

Zuerst wird so geredet, wie wenn der Heilige Geist, anders als Gott Vater und Sohn (despektierlich gesagt die anderen Themen der Theologie), nur mit einer Methode der Offenheit gegenüber seiner Offenbarung verstanden werden könne. Das ist tatsächlich die einzig adäquate Methode, aber für alle drei Personen der Trinität gleichermassen. Wer hier auch nur ein wenig andere Prioritäten setzt, tut dies gegen die wohldurchdachten und von der ganzen Christenheit übernommenen Thesen der frühkirchlichen Konzilien.

Dann wirkt es peinlich, wenn diese illustre Schar von Theologen lehrt, dass die Offenheit gegenüber Gottes Reden Erfahrungen und Erkenntnisse produziert. Nein, es ist Gottes Reden selbst und nicht die Offenheit demselben gegenüber. Wir erinnern uns noch gut an die populistischen Floskeln von Benny Hinn, der in genau diesem Sinn und mit diesem Verständnis dem Hl. Geist einen guten Morgen gewünscht hat.

Und abgeschlossen wird diese wichtige Einführung mit der lapidaren Warnung, dass eine Vernachlässigung der Pneumatologie zu theologischer Einseitigkeit führt. Das wiederum gilt für jede Vernachlässigung Gottes des Vaters und des Sohnes genauso.

Diese drei Hauptaussagen sind reine Platitüden und Allgemeinplätze – sie werden aber noch kritischer, wenn wir darauf hören, (1.) wem sie gelten und noch wichtiger, was eben (2.) nicht oder (3.) ebenfalls ausgesagt wird.
(1) Diese These ist offensichtlich gegen die alte Garde der (aussterbenden) Evangelikalen und ultra-konservativen Kreise gerichtet und verkennt damit, dass die junge Generation diesbezüglich keine Berührungsängste mehr kennt und höchsten in der Hektik des Alltags keine Zeit für das Offensein mehr findet und schon gar nicht die dafür notwendigen Ruhe und Besinnung.
(2) Man wird bei dieser These den Eindruck nicht los, dass Gottes Reden letztendlich beliebig verfüg- und abrufbar ist. Dieser verhängnisvolle, pragmatische Ansatz bringt ihm folgsame Jünger dazu, ständig Gott um sein Reden anzuflehen, anstatt mit Samuel auf Gottes bereits geschehenes Reden zu antworten mit: „Rede Gott, dein Knecht hört“. Das wollen missionale Jünger eben nicht: Warten auf Gottes Reden und danach Handeln. Sie laufen los, bevor sie gesandt sind, weil sie ja die einzige Bedingung bereits erfüllt haben – sie sind absolut offen.
(3) Und es ist eben diese unausgesprochene Methodengläubigkeit, die uns bei solchen Thesen hellhörig werden lassen sollte.

Gewissermassen als Antithese formuliere ich Folgendes: Die einzige wirksame Methode ist eine einseitige, radikale Ausrichtung auf Gott selber, die sich in hartem Kampf um Ruhe, Konzentration und ja, auch Offenheit gegenüber seinem Reden manifestiert. Die von mir in Vorlesungen immer wieder zitierte einzigartige, verheerende negative Potenz von uns Nachfolgern muss unsere Aufmerksamkeit gelten, sie gilt es zu bekämpfen. Anders formuliert: Wir können Gott nur daran hindern, zu uns zu reden – aber ihn zwingen können wir nicht! Keine sehr attraktive These, aus der man kaum Motivation, Engagement oder sogar Imperative ableiten kann.

Wegen solchem woken liberalem Unsinn leeren sich unsere Kirchen – eine Replik

Pünktlich auf Karfreitag hin veröffentlichte die Weltwoche eine Interpretation des höchsten Feiertages der Christenheit mit gleich der Selbstüberschätzung im Untertitel: „… die eigentliche Sensation des Christentums“.

Was mich beim Lesen so sauer macht, ist diese seit bald 200 Jahren Repetition der dümmlichen, liberalen und historisch-kritischen Theologie unserer Theologischen Fakultäten. Dabei glaubt und lebt die Mehrheit der heute lebenden Menschheit eine Auslegung der Bibel, die diesen kleinen unhistorischen Deppen diametral widerspricht. Ich möchte es einfach wieder einmal ausdrücklich formuliert haben, leider komme ich dabei nicht um eine unkirchliche Fäkalterminologie herum – aber es erhebt sonst niemand seine Stimme.

Dabei beginnt der Artikel mit der unbestrittenen Tatsache, dass der Karfreitag jedem religiösen Triumphalismus absagt. Das ist aber grundsätzlich nichts Neues und beschreibt die inhärente Gespaltenheit jeder Kirche in Sachen Macht.

Selbst der Gottessohn weiss keine Antwort und hat nur eine Frage: warum nur, warum?

Ein Exeget, der wie Grau an dem Warum Jesu in seinen Kreuzesworten hängen bleibt, verkennt (oder verschweigt bewusst), dass das Neue Testament eine ausführliche Antwort auf diese Frage bereithält. Die bescheuerte Universitätstheologie konnte noch nie etwas mit den vielfältigen soteriologischen (auf unsere Rettung bezogene) Aussagen des Kreuzes anfangen; dass der Gerechte für den Sünder sterben muss (Stellvertretung), dass die Schuld vergeben werden muss, dass der Krieg des Menschen mit Gott einen Friedensstifter braucht (Erlösung), etc. etc.

Der Osterglaube versüsslicht die Kreuzesbotschaft

Alexander Grau glaubt nicht, dass es sich bei der Auferstehung von Jesus um eine historisch gut bezeugte Tatsache handelt. Wie die ganze Universitätstheologie eben jahrhundertelang versuchte zu beweisen, ist das nur der Osterglaube der Christen, die sich nicht mit dem unabänderlichen Tod ihres Messias abfinden können.

Die weltweite Christenheit sieht das anders. Sie bemitleidet uns ach so modernen woken Dummköpfen, die zwar Christen sein wollen, aber das Wort des gründenden Christus verlachen. Jeder Bibelgläubige (und nehmen wir es mal als Kompliment, jeder fundamentalistische Christ) kennt die Worte des Paulus in 1.Kor.15, wo er mehr als 500 lebende Zeugen für die tatsächliche Auferstehung Jesu von den Toten benennt. Und als studierter Theloge findet er nur verachtende, beleidigende Worte für unser wokes Theologenpack:

„Ist aber Christus nicht auferweckt worden, so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden; dann sind auch die in Christus Verstorbenen verloren. Wenn wir nur in diesem Leben auf Christus hoffen, so sind wir die elendesten unter allen Menschen!

Die Freikirchen glauben und leben das schon lange, was Grau „österlichen Utopismus“ nennt und sich damit in die Randgruppe und Minderheit der bescheuerten antichristlichen Theologen der Moderne einreiht.

Karfreitag und Ostern bringen krasse Synergien ans Licht: Freiheit und Leben! – Meine eigentliche Replik

Der moderne Mensch kann endlich befreit von Schuld und Sünde, versöhnt mit seinem Schöpfer ein neues Leben beginnen. Natürlich ist der christliche Glaube genauso wie die Wissenschaft von den zugrundeliegenden, nicht hinterfragbaren Axiomen abhängig. Aber wenn man die für einen Christen hirnrissigen Annahmen Graus aus seiner Gedankenbrühe extrahiert, dann erstaunen seine Schlussfolgerungen nicht: Er geht von einem ratlosen Gott aus, der selber zum Opfer geworden ist (Grau hat keine Ahnung von der Zwei-Naturen-Lehre der Bibel und damit der Weltchristenheit); definiert die Christenheit von einer maroden, atheistischen, machtgeilen, westlichen Staatskirche aus; er verneint darum auch die aus Jesu Auferstehung folgende Auferstehung aller. Und so sieht er schlussendlich wieder anders als die Christen aller Zeiten den Erfolg des Glaubens in der Ostererzählung und nicht etwa in der Liebe und Allmacht Gottes. Wie wiederlich ist das doch und wie unrealistisch. Und damit schiesst sich die moderne Theologie wörtlich ins eigene Bein, weils sie gewissermassen die Cancel Culture in die Kirche holt. Dümmer geht nicht mehr!

Und definitiv zur Geschichtsklitterung wird es dort, wo er kausale Zusammenhänge zwischen Osterbotschaft und atheistischer, französischer Revolution herstellt. Und dass er dann sogar noch andeutet, dass die Osterbotschaft letztlich Anteil hat am Entstehen der Gräuel im Gulag und Konzentrationslager hat ist widerlich. Das verdeutlicht aber viel mehr, dass Grau selber seine Axiome nicht so sehr in der Wissenschaft (und daraus folgenden Humanismus und Aufklärung) hat, sondern in der woken atheistischen, antisemitischen und antichristlichen Ideologie der Grünen.

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Im Folgenden der vollständige Artikel von Alexander Grau:

Als Gott ratlos war – Karfreitag ist die zum Feiertag erhobene Absage an jeden religiösen Triumphalismus. Darin steckt die eigentliche Sensation des Christentums.

Alexander Grau

27.03.2024

Karfreitag ist der unbequemste aller christlichen Feiertage und der mit Abstand ödeste: Es gibt keine Geschenke. Es gibt keinen Festbraten. Nicht einmal ein paar trockene Karfreitagsplätzchen. Von seinem Eventcharakter her ist der Karfreitag der totale Flop.

Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, ist sogar das Tanzen an diesem Tag verboten. Und Stille, das ist genau das, was der moderne Mensch am wenigsten ertragen kann.

Doch nicht nur für die überdrehte Spassgesellschaft unserer Tage ist der Karfreitag eine Zumutung. Auch Theologen, Pastoren und Pfarrer haben ihre liebe Not mit ihm. Schliesslich widerspricht er dem flauschigen und süsslichen Bild von Religion und Christentum, das seit Jahrzehnten hingebungsvoll gepflegt wird. Denn mit Lichterketten, Händchenhalten und infantilem Ringelreihen hat die Bildersprache des Karfreitags wenig zu tun. In seinem Zentrum steht das Kreuz. Also ein Hinrichtungs- und Folterinstrument. Und dessen Botschaft hat mit moderner Wellnessreligiosität schrecklich wenig zu tun, im Gegenteil.

Schöpfer und Opfer zugleich

Die Sprachlosigkeit vieler Geistlicher ist auch deshalb so bedrückend, weil erst der Karfreitag das Christentum zum Christentum macht und dessen singuläre Stellung unter den Religionen begründet. Denn keine andere Religion liefert ein vergleichbar starkes Bild: den gekreuzigten Gottessohn, der zugleich – und insbesondere hier – ganz Mensch ist.

Götter, das waren und sind in den meisten bekannten Religionen entweder unberechenbare Wesen, launisch, selbstgefällig und allzu menschlich. Oder sie sind wahre Himmelsfürsten, Inkarnationen des Absoluten, herrliche Schöpfer, allmächtig und allwissend.

Anders das Christentum. Hier ist Gott nicht nur der allmächtige Schöpfer, sondern zugleich Opfer, gefoltert, misshandelt, ans Kreuz genagelt. Das Gegenteil eines Himmelsherrschers. Ein Bild voll Zweifel und Verzweiflung.

Doch auch das Christentum konnte den Verlockungen eines triumphalistischen Gottesbildes nicht lange widerstehen. Und so ist sein Aufstieg von einer kleinen jüdischen Sekte zur römischen Staatsreligion zugleich die Geschichte der Erhebung und Ästhetisierung des Gottessohnes zum antiken Himmels-Cäsaren.

Ermöglicht wurde diese monarchistische Umdeutung durch die Ostererzählung. In ihr wird aus dem Gefolterten und Gemarterten der Triumphator über den Tod, der schliesslich in den Himmel entrückt wird. Der Tod wird besiegt.

Ohne Ostererzählung hätte es die Jünger in alle Winde zerstreut. Das Christentum wäre nie entstanden.Eine folgenreiche Fortschreibung des historischen Geschehens. Denn ganz nebenbei bekommt die Botschaft des Jesus von Nazareth hier eine ganz neue, süssliche Bedeutung. Der Nazarener selbst sprach lediglich davon, dass am Jüngsten Tag die Toten auferweckt werden. Doch auferwecken kann man nur Menschen, die in einem ganz klassischen Sinne tot sind. Von einer Seele, die unmittelbar nach dem Tod weiterlebt, spricht Jesus nicht. Diese Vorstellung wird erst durch das Ostergeschehen motiviert. Hat Jesus nicht den Tod niedergerungen? Sind wir dann nicht alle unsterblich?

Überwindung des Todes

Der Erfolg dieser Geschichte ist religionsgeschichtlich einleuchtend und psychologisch gut nachzuvollziehen. Sie gab den Jüngern ihren Glauben zurück, eine Perspektive, die Gewissheit, sich nicht geirrt zu haben. Ihr Heiland war gar nicht tot. Die scheinbare Niederlage ein Sieg.

Ohne Ostererzählung hätte es die Jüngerschar in alle Winde zerstreut. Das Christentum wäre nie entstanden. Zugleich machte die sich nach und nach verfestigende Vorstellung, dass die Seelen der Gläubigen direkt nach ihrem Tod in den Himmel fahren, die neue Religion extrem attraktiv. Millionen Menschen im Elend bot sie eine Perspektive.

Langfristig jedoch, bis in unsere Tage, hatte diese Botschaft fatale Folgen. Das Geschehen am Karfreitag wurde zur Episode umgedeutet. Zu einem heilsgeschichtlich zwar notwendigen, letztlich aber sekundären Ereignis, dessen ganze theologische Funktion es ist, das Ostergeschehen umso heller strahlen zu lassen. Aus dem Gefolterten wurde der Himmelsherrscher. Nicht Kreuzigung und Martertod standen im Zentrum christlicher Spiritualität, sondern Auferstehung und Überwindung des Todes.

Man kann die Menschen verstehen. Insbesondere in den Jahrhunderten, in denen Leid, Gewalt und Elend zur Alltagswirklichkeit gehörten, war die Sehnsucht nach jenseitiger Erlösung grösser als das Bedürfnis nach existenzieller Versenkung. Und doch nahm diese religionshistorische Entwicklung dem Christentum die Spitze, noch ehe es Christentum wurde.

Irrsinn der Selbstoptimierung

Denn der Osterglaube versüsslichte die Kreuzesbotschaft. Das Christentum wurde – in den giftigen Worten Heinrich Heines – zum Eiapopeia vom Himmel umgedichtet. Aus der unnachgiebigen Kreuzesbotschaft, der radikalen Absage an menschliche Hybris und weltliche Erlösungsfantasien, wurde der kitschige Gedanke an eine heile Welt im Jenseits.

Doch der Osterglaube verdrehte den Ernst der Karfreitagsbotschaft nicht nur ins Infantile und Heidnische. Er stiftet auch die gedankliche Grundlage für die verhängnisvollen Erlösungsideologien, die in Gestalt säkularer Religionen das Himmelreich schon im Hier und Jetzt errichten wollten – koste es, was es wolle.

Mit Ostern kam die für antike Menschen befremdliche Botschaft in die Welt, dass die Weltgeschichte linear ist und auf eine Art Happy End zuläuft. Solang dieses Bild als Ausdruck einer göttlichen Dramaturgie verstanden wurde, konnte man ihm allenfalls vorwerfen, von den realen Problemen der Welt abzulenken. In ihrer säkularen Form, in der sie spätestens seit der Französischen Revolution auftritt, bekam die Osterbotschaft jedoch einen totalitären Unterton. Die Idee, schon hier und jetzt das Himmelreich auf Erden zu errichten, hat in der Moderne Millionen Menschen das Leben gekostet.

Diesem österlichen Utopismus tritt die existenzielle Botschaft des Karfreitags entgegen. Zugleich markiert das Karfreitagsgeschehen religionsgeschichtlich eine Umwertung aller bis dahin gültigen religiösen Vorstellungen. Gottes Souveränität zeigt sich nicht in seiner Allmacht, sondern in seiner Ohnmacht. Und: Der Mensch kann nichts zu seiner Erlösung beitragen, weder durch Opfer noch durch gute Taten – und durch Märtyrertum schon mal gar nicht. Der Mensch, das ist die harte Botschaft des Karfreitags, kann sich nicht selbst erlösen.

Das ist in Zeiten der zur Massenkultur gewordenen Selbsterlösung natürlich eine eher unpopuläre Nachricht. Denn es gehört zu den Zwangsvorstellungen der Moderne, der Mensch könne sich selbst das Heil bringen – sei es durch die Gesellschaft, durch die Politik, durch Konsum oder durch individuelle Emanzipation.

Doch die Versuche des Menschen, sich mittels gesellschaftlicher Ordnungen zu erlösen, führten direkt in den Gulag und nach Auschwitz. Und die individuelle Selbsterlösung in den alltäglichen Irrsinn der Selbstoptimierung mittels Personal Trainer, Coach und Psychotherapeut. Diesen Selbsterlösungsfantasien stellt sich die Karfreitagsbotschaft mit allen Konsequenzen entgegen.

In diesem Sinne ist der Karfreitag tatsächlich radikal unzeitgemäss – und deshalb der wichtigste aller christlichen Feiertage. Er erinnert uns daran, dass wir immer schuldig werden und diese Schuld aus eigenem Tun nicht mehr loswerden. Und er macht uns mittels eines drastischen Bildes klar, dass unser Seelenheil, prosaischer gesprochen: unser Glück, nicht von uns abhängt, unseren Lebens- und Karriereplanungen.

Antwort in der Stille

Karfreitag ist die zum Feiertag erhobene Absage an jede Ideologie. Das Kreuz, an dem niemand anderes stirbt als der Gottessohn selbst, ist die klare Zurückweisung aller falschen Versprechen und angeblichen Wahrheiten. Die Botschaft des Karfreitags ist das Gegenteil von Gewissheit. Am Ende steht nur das eine Wort: warum?

In diesem einen Wort steckt die eigentliche Sensation des Christentums. Hier ist eine Religion, die keine Antwort gibt. Gott selbst ist ratlos. Das Elend der Welt, das Leid, die Verzweiflung – all das ist unergründlich, von brutaler Faktizität, aber ohne jeden Sinn. Selbst der Gottessohn weiss keine Antwort und hat nur eine Frage: warum nur, warum?

Gottes Souveränität zeigt sich nicht in seiner Allmacht, sondern in seiner Ohnmacht.Das ist das Gegenteil von religiösem oder ideologischem Triumphalismus. Das ist unendlich weit weg von der Selbstherrlichkeit und Selbstgewissheit, mit der andere Religionen oder Ideologien gerne auftreten. Es ist diese karfreitägliche Verzweiflung, ja der Selbstzweifel des sterbenden Gottes, der das Christentum zum Christentum macht.

Als Symbol des Christentums hat sich das Kreuz durchgesetzt. Wie kein anderes Zeichen steht es für Ohnmacht, Ratlosigkeit und Verlassenheit. Gott selbst leidet und fragt, warum. Das ist die Karfreitagsbotschaft. Oder genauer: Sie liegt in der Antwort auf die verzweifelte Frage des Jesus von Nazareth – der Stille.

Rentner – Behinderte Langzeitarbeitslose

Das Rentnerdasein wird überschätzt. Die Leute denken immer: «Hui, wenn ich Rentner bin, mache ich endlich die vielen Reisen, die ich schon immer machen wollte!» Aber die Wahrheit ist: Alles, was man vorher nicht gemacht hat, macht man als Rentner erst recht nicht. Und die nächste Wahrheit lautet: Als Rentner ist man im Wesentlichen ein Arbeitsloser. Als mein Freund Bruno mal im Alter von 42 Jahren arbeitslos war, verbrachte er die meiste Zeit in seinem Garten und jätete. Jetzt ist er pensioniert und verbringt wieder die meiste Zeit in seinem Garten. Als er arbeitslos war, ging er jeden Tag wie früher, als er noch einen Job hatte, früh zu Bett und stand früh auf, um sich nicht gehen zu lassen. Jetzt als Rentner geht er ebenfalls früh zu Bett und steht früh auf, um sich nicht gehen zu lassen. Als Arbeitsloser begann er wie verrückt Englisch zu lernen, um sich weiterzubilden, und jetzt als Pensionierter lernt er wie verrückt Ungarisch, um sein Gedächtnis im Schuss zu halten. Der einzige Unterschied zu seinem früheren Arbeitslosendasein ist, dass er jetzt als Rentner keinerlei Hoffnung mehr hat, jemals wieder einen Job zu finden. Das Rentnerdasein ist also sogar die schlimmste Form der Arbeitslosigkeit, nämlich eine endgültige, unwiderrufliche und bis zum Tode dauernde Arbeitslosigkeit, die meistens noch einhergeht mit körperlichen Beeinträchtigungen. Pensionierte sind praktisch behinderte Langzeitarbeitslose.

Bruno kann ja beim Gärtnern das Schäufelchen gar nicht mehr richtig greifen, weil seine Finger ihm weh tun: Er hat Daumensattelarthrose. Wenn er sich bücken muss, um an niedrig wachsendes Unkraut ranzukommen, knacken seine Knie so laut, dass ich jedes Mal denke: «Ein Pferd in diesem Zustand würde man erschiessen.» Bruno sagt: «Das Gärtnern tut mir so gut, das glaubst du ja gar nicht!» Er meint die frische Luft, die regelmässige Bewegung, aber ehrlich gesagt: Das kann man auch als Gefängnisinsasse haben beim täglichen Hofgang. Ich will damit nur sagen, dass es ungefähr so viele Vorteile hat, pensioniert zu sein, wie es Vorteile hat, in der Wüste von Arizona nackt an einen Kaktus gefesselt zu sein. Na gut, das ist ein schlechtes Beispiel, denn wenn man nackt an einen Kaktus gefesselt ist, erlebt man immerhin etwas Aussergewöhnliches. Etwas, das man seinen Enkeln erzählen und sicher sein kann, dass sie auch wirklich zuhören.

Aber wenn Bruno seinen Enkeln erzählt, dass er vorhat, einen Nistkasten für Kohlmeisen zu kaufen, tippen seine Enkel auf dem Handy herum. Wen interessiert schon das Leben von körperlich beeinträchtigten Dauerarbeitslosen? In einem solchen Leben ist es schon ein berichtenswertes Ereignis, wenn beim Hausarzt ein neues Sonnenblumenfoto im Wartezimmer hängt. Ich bin der Einzige, der über so was überhaupt schreibt. Alle anderen Autoren machen einen riesigen Bogen um das Thema Rentner: Weil es so sexy ist, wie wenn Bruno sich in seinem blauen Gärtner-Overall am Hintern kratzt und sich dann mit einem Schmerzseufzer ins Kreuz greift, weil durch die Kratzbewegung irgendein Nerv eingeklemmt wurde.

«Du bist doch selber Rentner», sagt Bruno oft, «du weisst doch, wie das ist!» Gar nichts weiss ich. Und wenn ich etwas wüsste, würde ich’s nicht sagen. Es gibt auch aktive Rentner, aktive Arbeitslose, die niemals aufgeben, nie! Die so aussehen wie die Pensionierten in der Apothekerzeitschrift: vitale Kraftbündel auf Mountainbikes (der Satteldruck verkleinert die Prostata). Steven Spielberg hat mit 76 noch einen Film gedreht – natürlich nicht allein. Klar waren da Leute, die ihn daran erinnert haben, wo die Linse ist. Aber was zählt, ist der Wille, mit den Füssen voran von der Bühne getragen zu werden, ohne jemals eine Gartenschaufel in die Hand genommen zu haben!

Die Weltwoche (Ausgabe 13/2023) – UNTEN DURCH – Vitale Kraftbündel – Linus Reichlin – 29.03.2023

Mein Schmerz

Mark van Huisseling / Weltwoche 1.22, S.72

Wie hat Ihr neues Jahr begonnen? Hoffentlich nicht zu glücklich. Meins? Kann ich nicht sagen, denn geschrieben habe ich diese Zeilen noch im eben zu Ende gegangenen Jahr; das nennt man «Redaktionsschluss-Vorlauf» (und ist in Ordnung, ich kümmere mich ja weniger um neuste News). Nicht dass Sie jetzt meinen, MvH sei engherzig oder neidhaft. Bin ich nicht. Im Gegenteil, wenn Ihr Kolumnist seinen Leserinnen und Lesern nicht zu viel Glück wünscht, dann, weil er wohlmeinend ist, Sie werden sehen beziehungsweise lesen.

Bevor ich zum schmerzhaften Teil dieser Spalte komme, habe ich gute Nachrichten: Die Schweiz belegt Platz zwei auf der Liste «Die glücklichsten Länder der Welt» (Quelle: Tide, eine britische Finanzdienstleistungsplattform). Vor Norwegen, den Niederlanden und Schweden, aber hinter Dänemark. Davon abgesehen, dass die Länder mit dem höchsten happiness index score mehrheitlich schlechtes Wetter haben, ist zu erwähnen, dass solche Listen oft auf merkwürdigen Messgrundlagen fussen – weil die Urheber für etwas Reklame machen wollen, in diesem Fall für schnelle Internet-Anschlüsse –, was zu willkürlichen Ergebnissen führen kann (die Sache aber irgendwie reizend macht).

Doch ganz falsch ist auch diese Erhebung nicht, reiche Länder mit gutem Sozialsystem stehen oft an der Spitze von Befragungen nach dem Glück ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Anders sieht es dagegen aus, wenn’s um die Einschätzung geht, ein sinntragendes Leben zu führen – dann sind Menschen aus Sierra Leone, Togo, Senegal, Ecuador, Laos, Kuba und Kuwait obenauf (Quelle: Gallup, ein amerikanisches Meinungsforschungsinstitut). «Glücklich sein hängt mit dem Bruttosozialprodukt zusammen, aber es könnte dem Gefühl von Sinnhaftigkeit entgegenlaufen», kommentiert eine New Yorker-Schreiberin. Weiter sei es denn auch wenig überraschend, dass viele Menschen in wohlhabenden Nationen fänden, ihr Leben sei arm an Bedeutung. Oder wie Paul Bloom, Psychologieprofessor in Yale und Autor, in seinem neuen Buch «The Sweet Spot: The Pleasures of Suffering and the Search for Meaning» schlussfolgert: «Elend und Leiden sind, zu einem bestimmten Grad, wesentlich für ein reiches und sinnvolles Leben.»

Wer nun ableitet, die nächste Station auf diesem Weg sei, sich selbst zu geisseln, bekommt recht. In ihrem Buch «Hurts So Good: The Science and Culture of Pain on Purpose» (etwa «Tut wohlweh: Wissenschaft und Kultur von absichtlichem Schmerz») erklärt die Journalistin Leigh Cowart, die sich als Masochistin beschreibt, wie man den eigenen Körper überlisten kann, damit er Endorphine, «biologische Schmerztöter», ausschüttet, dank denen man sich besser fühlt – indem man ihn quält. Zwecks Recherche wollte sie etwa Teilnehmer eines Ultramarathons befragen, doch die Rennleiter verhinderten das (Begründung: Der Lauf sei zwar unbequem, doch das sei eine Begleiterscheinung, nicht das Ziel).

So weit zu rennen oder zu gehen, im übertragenen Sinn, ist weder nötig noch empfehlenswert. Bloom, der Psychologe, beschreibt seinen «Sweet Spot» als eine Art süsse Wegmarke, die zwar nur mittels Anstrengung und Risikobereitschaft erreichbar ist, aber keine unkritische Haltung gegenüber Qual und Schmerz erfordere. Und er erwähnt den Ikea-Effekt – dass bestimmte Leute willens sind, ein Möbelstück mühevoll selbst zusammenzubauen, und erst noch mehr dafür bezahlen im Verhältnis. Mit anderen Worten: Geistreiche Wege zu finden, um zusätzliche Reibung zu erzeugen, sei der sichere Pfad, unsere Tätigkeiten sinnvoller erscheinen zu lassen. Oder: «Besser leben dank der massvollen Beimischung von Schmerz.»

Womit wir bei einer solchen Sache angelangt sind, mit der ich vor einem Jahr oder so begonnen habe: Eisbaden. Um die körpereigene Abwehr zu stärken, meinte ich. Tatsächlich geht’s um mehr, vermute ich mittlerweile – um Erfüllung und Sinn im Leben et cetera, denn glücklich und ein wenig gefühllos (comfortably numb) sind wir Schweizer ja längst (Liste «Die glücklichsten Länder der Welt»). Wer am 15. Januar mit in den kalten Zürichsee steigen möchte, meldet sich bei MvH.

Marionette Mensch – Fatalismus des Materialismus

Kaffee oder Tee? Immer mehr Wissenschaftler glauben, dass wir nicht einmal Herr solch banaler Entscheidungen sind. Ist der freie Wille eine Illusion?

Genau dahin kommt man, wenn man seinem Denken nicht erlaubt, sich ein Jenseits, eine Transzendenz vorzustellen. Wolfgang Koydl beschreibt in diesem Artikel (19.5.2021) eindrücklich, wie atheistischer Determinismus immer direkt zum Nihilismus führt; in eine lieblose und verantwortungslose Welt! Aber was um Gottes Willen ist daran neu? Evolutionisten werden immer wieder den gleichen Unsinn daraus folgern und nie ihre fatale Prämisse hinterfragen! Quod erat demonstrandum. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Aber ihr Warnhinweis ist in einer konservativen Zeitschrift unangebracht – die geneigte Leserschaft hat diese Engführung schon längst durchschaut und ihren Horizont erweitert!

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Vielleicht sollte man diesem Artikel einen Warnhinweis voranstellen. Denn die Schlussfolgerungen könnten bei manchen Lesern Entsetzen, Empörung oder gar Verzweiflung auslösen, reissen sie doch das ganze Gebäude der Zivilisation, ja des menschlichen Zusammenlebens ein. Schuld und Sühne, Lob und Zuspruch, Liebe, Freundschaft und Wohltätigkeit – alles wäre Schall und Rauch, pure Illusion.

So wie der freie Wille, die Überzeugung, dass wir Herr unserer Entscheidungen und damit für unsere Handlungen verantwortlich sind. Denn eine immer grössere Zahl von Naturwissenschaftlern, Philosophen und Psychologen kommt zum Schluss, dass selbst die banalsten Entscheidungen fremdbestimmt sind. Damit könnte niemand für etwas haftbar gemacht werden, aber auch gute Taten wären keine bewussten Entscheidungen und somit wertlos.

Unveränderliche Gesetze

Nach Überzeugung dieser Wissenschaftler ist das Leben eine Kausalkette, eine Abfolge von Ursachen und Wirkungen, die ihrerseits wieder die Ursachen für die nächsten Konsequenzen sind. Jedes Ereignis ist die Folge eines früheren Ereignisses, dem seinerseits ein Ereignis zugrunde lag. Denkt man dies logisch zu Ende, reicht die Kette zurück bis zum Urknall, zum Ursprung des Universums. «Determinismus» heisst diese Denkschule, weil alle Aktionen determiniert, bestimmt sind.

So hängt auch die banale Frage, ob man Tee oder Kaffee wählt, von zahlreichen Gründen ab, auf die wir keinen Einfluss hatten: dem Ort, an dem wir aufgewachsen sind, von der Erziehung, von Geschmackspräferenzen (haben sich Broccoli-Liebhaber jemals bewusst für dieses Gemüse entschieden?) und den Genen, die wir von den Eltern ungefragt erhalten haben, die sie wiederum von ihren Eltern bekamen. «Deine Entscheidung kommt aus der Dunkelheit früherer Ursachen, die du, der bewusste Zeuge deiner Erfahrungen, nicht hervorgebracht hast», beschreibt es der Neurowissenschaftler und Philosoph Sam Harris. Wissenschaftler anderer Fächer sekundieren: Nach Ansicht des Evolutionsbiologen Jerry Coyne schliessen die Naturgesetze einen freien Willen aus: Das Gehirn sei ein organisches System und folge diesen unveränderlichen Gesetzen. Der Allround-Denker Yuval Noah Harari hält die menschliche Entscheidungsfreiheit für einen «anachronistischen Mythos». Und schon Arthur Schopenhauer befand: «Der Mensch kann wohl tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.»

Unterstützung kommt von Neurowissenschaftlern, seitdem diese die Hirnaktivität messen können. Bekannt wurden die Experimente des amerikanischen Physiologen Benjamin Libet, der nachwies, dass sich das Gehirn selbsttätig für eine Handlung entscheidet – bis zu einer halben Sekunde früher als zum Zeitpunkt, zu dem wir glauben, sie zu treffen. Selbst die an der Aktion beteiligten Muskeln sind längst vorbereitet, wenn wir endlich den Gedanken fassen. Harris fasst es prägnant zusammen: «Wir können ebenso wenig unserem Gehirn befehlen zu denken, wie wir unserem Herz befehlen können zu schlagen.»

Aber kann sich der Mensch nicht – allein mit Willensstärke – verändern? Eine Diät durchhalten, Sport treiben, dem Alkohol entsagen? Harris hat auch hier eine Antwort: Nur wer schon die entsprechende Persönlichkeit hat, kann seine Persönlichkeit auch ändern. Und mit dieser Persönlichkeit wurde man geboren, sie ist das Ergebnis einer langen Reihe von Fakten genetischer und äusserer Einflüsse.

Kritik am Determinismus kommt von der Quantenmechanik. Sie hat entdeckt, dass Abläufe im subatomaren Bereich nicht nach Gesetzmässigkeiten, sondern zufällig ablaufen. Damit aber ist die Kausalkette durchbrochen. Doch für Harris und seine Kollegen verfängt diese Argumentation nicht: «Auch wenn unsere Entscheidungen ein Produkt des Zufalls sind, sind wir nicht für sie verantwortlich.»

Am gefährlichsten Punkt

Hier rührt Harris an den gefährlichsten Punkt der Debatte über den freien Willen – die Konsequenzen, die ein Abschied von diesem Konzept bedeuten würde. Denn damit wäre jede menschliche Handlung, egal, ob gut oder böse, bar jeglicher moralischen Grundlage. Verbrecher könnten nicht für ihre Taten belangt werden, wenn sie dafür nicht verantwortlich gemacht werden können. Absurd? Und wie urteilen wir über einen Mörder, der seine Taten verübte, weil ein Hirntumor seine Persönlichkeit veränderte?

«Niemand hat sich selbst herbeigeführt», meint der Philosoph Bruce Waller. «Niemand hat sich seine Gene oder die Welt, in die er geboren wurde, ausgesucht. Deshalb trägt niemand letztlich die Verantwortung dafür, wer er ist und was er tut.» Mit anderen Worten: Mit Hitlers Genen und Hitlers Erziehung kann jeder Hitler werden.

Bei diesem Gedanken öffnet sich aber ein ethisch-moralischer Abgrund, und wer zu tief in ihn blickt, dem wird schwindlig. Der israelische Philosoph Saul Smilansky empfiehlt daher, dass nur Eingeweihte dieser «dunklen und furchtbaren Wahrheit ins Auge» sehen dürften. Der Rest der Menschheit solle an der «Illusion» des freien Willens festhalten: «Wenn die Wahl besteht zwischen dem, was wahr ist, und dem, was gut ist, dann muss die Wahrheit weichen – um der Gesellschaft willen.»

Wolfgang Koydl, Weltwoche 20/21, 19.05.2021, S.42

Brauchen wir eine Theorie der Repetition?

Nichts Neues unter der Sonne / Von Salomos Sicht aus weiter denken

Unter dieser Überschrift veröffentlichte Linus Reichlin folgenden Artikel im Mai 2021:

„Dass es nichts Neues mehr unter der Sonne gebe, dachten ältere Leute schon immer. Aber noch nie dachten es so viele. Während früher die meisten Menschen starben, bevor sie das Gefühl hatten, alles schon zu kennen, leben heute 25 Prozent der Schweizer seit sechzig Jahren und länger. Das bedeutet, dass ein Viertel der Bevölkerung 70 Prozent aller Filme, die auf Amazon angeboten werden, schon einmal gesehen hat. Schlimmer noch: Ein Viertel der Bevölkerung hat auch die neuen Spielfilme irgendwie alle schon einmal gesehen, denn die erzählten Geschichten sind selten wirklich neu.

Ein Viertel der Bevölkerung hat demzufolge auch in der Buchhandlung Déjà-vu-Erlebnisse. Die Titel der Romane sind zwar jeweils neu, aber die Geschichten drehen sich stets um dasselbe: Familie, Beziehungen und Verbrechen. Und in keinem der neuen Romane steht etwas drin, was nicht schon in einem älteren Roman steht – es kann gar nicht anders sein! Denn es gibt nicht endlos viele mögliche Verbrechen, und auch die Liebe folgt einer bestimmten, endlichen Anzahl möglicher Verläufe.

Als ich jung war, bildete ich mir ein, das Verhaltensrepertoire des Menschen sei prinzipiell unendlich. Und die Romane, die ich las, gaben mir scheinbar recht: Denn fast jedes Buch behandelte ein für mich noch neues Thema. Jeder Film, den ich sah, sprach von etwas, was ich noch nicht kannte und von dem ich mir einreden konnte, dass auch niemand sonst es kannte. Doch jetzt, Jahrzehnte und zahllose Romane und Filme später, merke ich, dass der Erfindungsreichtum der Schriftsteller und Drehbuchautoren notgedrungen limitiert ist. Der Mensch ist nicht unbeschränkt interessant – wie also könnte es die Kunst sein?

Beschränktes Repertoire

Eine Freundin von mir, die seit dreissig Jahren als Psychotherapeutin arbeitet, sagte mir einmal, inzwischen habe sie alle psychischen Probleme, mit denen neue Patienten zu ihr kämen, in derselben oder in einer ähnlichen Form schon einmal gesehen. Man sollte meinen, das Feld seelischer Verirrungen sei riesig oder jedenfalls grösser, als dass es ein Therapeut in seiner Lebenszeit je ganz durchschreiten könnte. Aber das stimmt nicht. Die Grösse dieses Feldes reicht genau aus, um eine Therapeutin dreissig Jahre lang mit etwas zu überraschen, was sie noch nicht kennt. Aber nach diesen dreissig Jahren ist die Wundertüte leer. Ein Psychotherapeut, der 150 Jahre lang praktizieren würde, würde nach spätestens fünfzig Jahren in eine existenzielle Langeweile geraten und zu den Medikamenten greifen, die er sonst nur in schweren Fällen verschreibt.

Mit steigender Lebenserwartung wird das Problem nicht besser werden. Stirbt man mit fünfzig, nimmt man die Illusion mit ins Grab, dass es noch so viele interessante Romane und Filme gegeben hätte und noch so viele einzigartige Erlebnisse mit anderen Menschen! Stirbt man hingegen mit achtzig, weiss man spätestens seit etwa zwanzig Jahren, wie beschränkt das Repertoire des Menschen ist. Man wäre schon ab sechzig verzweifelt, hätte man nicht immer und unbelehrbar die Hoffnung gehabt, dass vielleicht doch noch etwas Neues kommt: eine Begegnung von noch nie dagewesener Intensität, ein Film, der einem die Augen für etwas öffnet, das man bisher völlig übersehen hat. Vielleicht erlebt der eine oder andere ja dieses Wunder – aber die meisten blicken jeden Tag der Repetition ist Auge.

Immerhin führt der Weg zur Repetition über wunderbare Erlebnisse des Neuen. Als ich zum ersten Mal mit einer Frau schlief, fühlte ich mich, als hätte ich gerade die Fortpflanzung erfunden. Ich war sicher, dass noch niemals ein Mensch vor mir etwas so Intensives empfunden hatte. Als ich später andere Frauen kennenlernte, staunte ich darüber, wie unterschiedlich sie waren. Das Leben war ein Füllhorn, gefüllt mit immer neuen Schwierigkeiten und Beglückungen. Doch mit vierzig lernte ich eine Frau kennen, mit der es dieselben Probleme gab wie mit zwei anderen Frauen vor ihr. Schlimmer noch: Es gab auch dieselben Beglückungen wie mit zwei Frauen vor ihr. Ich begann zu ahnen, dass man, wenn man älter wird, lernen muss, Repetitionen zu schätzen. Oder im besten Fall Varianten.

Doch glücklicherweise gibt es Dinge, die auch als Déjà-vu immer wieder überwältigend sind. Ein Bio-Cervelat vom Grill wird so lange immer wieder köstlich sein, bis man nur noch breiige Nahrung bei sich behalten kann. Eine neue Liebe mag bei genauer Betrachtung ähnlich sein wie eine andere Liebe vor ihr – aber man betrachtet es eben nicht auf diese Weise. Ein köstlicher Grill-Cervelat und eine schöne Liebe haben etwas Ewiges, das nicht der Abnutzung durch Repetition unterworfen ist. Die Freude darüber erneuert sich von selbst, beides ist praktisch etwas immanent Neues.

Permanentes Déja-vu

Neben dem Essen und der Liebe bleibt einem Viertel der Bevölkerung allerdings wenig – einem Teil dieses Viertels bleibt auch oft nur das gute Essen. Was gäbe man dafür, in der Oper wieder einmal so begeistert zu sein wie früher, als man die neue Inszenierung des «Barbiere di Siviglia» noch nicht mit den fünfzehn vorherigen Inszenierungen vergleichen musste, die man gesehen hat. Man möchte das Kino wieder einmal nachdenklich verlassen und nicht entgeistert darüber, dass die zumeist zwanzig Jahre jüngeren Filmkritiker den Film in höchsten Tönen gelobt haben. Sie attestierten ihm «eine neue Sichtweise auf die Liebe» – da kann ein Viertel der Bevölkerung nur auf den künstlichen Stockzähnen lachen! Eröffnen unsere dritten Zähne uns etwa «eine neue Sichtweise auf das Kauen»?

Die Medien sollten wissen, dass ein Viertel der Bevölkerung mit nichts mehr überrascht werden kann. Wenn man in seinem Leben schon ein Dutzend Spiegel-Titelgeschichten über «Lehrer – Sündenböcke der Nation?» gelesen hat, nützt es auch nichts, wenn die dreizehnte Titelgeschichte «Lehrer*innen – Sündenziegen der Nation?» heisst. Dadurch wird es nicht neuer.

Im Jahr 2100 werden 40 Prozent der Schweizer über sechzig Jahre alt sein. Spätestens dann wird man eine Theorie der Repetition brauchen, um zu erkennen, in welcher Weise ein so hoher Anteil von Menschen, die alles schon einmal gesehen haben, die Gesellschaft als Ganzes beeinflusst, insbesondere auch Kultur und Medien. Und man wird herausfinden müssen, wie man im Zustand des permanenten Déjà-vu ein glückliches Leben führen kann.“

Seit Salomo nichts dazu gelernt?

Christen sollten hier an erster Stelle mitsuchen, wie die Repetition im alltäglichen Leben die Weis- und Wahrheiten der Bibel und der Lehre von Jesus lebendig bleiben können. Denn der alte Viertel auch der Nachfolger sollte sich nicht zurückziehen aus der Gesellschaft, sondern für die anderen in derselben Kategorie Lösungen anbieten!

Blinde Blindenführer bei den Evangelikalen

Wie die machtgeile Leiterschaft die Schäfchen immer weiter politisch nach links führen will.

Als Beispiel dient mir die Unterstützung des Leitungsgremiums vom VFG für die Konzernverantwortungsinitiative – vgl. Peter Schneeberger, Präsident freikirchen.ch. Die Gegengründe sind so zahlreich, dass man sich fragt, warum das oberste Leitungsorgan so abgelöst von der Basis agiert.

  1. Kirchen und Verbände sollten gar keine politische Position beziehen
  2. Sie verärgern die Mehrheit ihrer Basis und polarisieren unabsichtlich
  3. Sie bauen aktiv Zugangshindernisse zum Glauben für Konservative
  4. Sie outen sich als Dummschwätzer, die nur rotgrüne Argumente portieren
  5. Sie machen unsinnige, für die Allgemeinheit bedeutungslose Themen zu zentralen Glaubensaussagen
  6. Verzettelung der wenigen Kräfte ist eine tragische Folge davon

Imker vs. Hirte

2017 erschien das Buch von Rini van Solingen mit dem Titel „Der Bienenhirte“.  Er nennt es „Ein Roman für Manager und Projektverantwortliche“ und behandelt darin das Führen von selbstorganisierten Teams.

Meine erste Reaktion v.a. auf den Titel war die: Kann man diese zwei Berufe des Hirten und Imkers überhaupt vergleichen oder sogar kombinieren. Oder noch drängender: Kann die in unseren Kirchen und christlichen Organisationen so stark geprägte Aufgabe des Hirten tatsächlich erweitert und ergänzt werden?

Dabei möchte ich in diesem Artikel vor allem der Frage nachgehen, ob dieser neue Führungsansatz nicht entscheidende Impulse für die Kirche und Gemeinde des angebrochenen Jahrtausends werden könnte. Das alte Bild des Hirten geht eben zu stark von schwachen, hilflosen Wesen aus, die vom Hirten abhängen. Die Gemeinde ist dann in dieser Vorstellung  Spital, Reha oder Therapiestation. Und weil die Bibel den Ältesten den Job des Hirten zuweist, bleibt der Oberhirte Jesus  im Hintergrund und sogar meist bedeutungslos.

Ein völlig anderes Bild zeichnet dasjenige des Imkers. Da hat nur einer den Überblick und lässt den Völkern freien Lauf. Dem will ich in den nächsten Tagen nachgehen und nachdenken.

Vergleiche dazu auch den neuen Ansatz von jesusfirst.ch!

Nicht ganz bei Trost

Viele Zeitgenossen in unserer trostlosen Welt wünschen sich verlässliche Partner und verständnissvolle Gegenüber. Weil die aber sehr rar sind, flüchtet man sich zu den Medien. Kürzlich las ich auf einem Kalenderzettel meiner Frau folgende Ermutigung:

Ich wünsche dir stets eine gute Freundin an deiner Seite, die dir zuhört, wenn du etwas auf dem Herzen hast. (von Unbekannt)

Seid immer sofort bereit, jemandem zuzuhören; aber überlegt genau, bevor ihr selbst redet. (Jakobus 1.19)

Warum die nicht ganz bei Trost sind, die so Trost spenden?

Es ist eine Sprungbrett-Auslegung par Excellence! Jakobus wünscht sich vom Leser, dass er ein besserer Zuhörer als Redner werde, weil diese eben so rar sind in unserer unpersönlichen Zeit. Hier aber in diese Pseudotrost wünscht das irgendwer dem Trostsuchenden.

Die zweite viel gefährlichere Lüge liegt in dem kurzen „Ich wünsche dir stets …“. Der Leser wird betrogen, wie wenn ihm da jemand etwas Gutes wünschen würde und das soll (und tut es meist auch scheinbar) trösten, ermutigen. Es gibt da niemand, der das macht, keine Person, kein Verlag … einfach niemand!

Manfred Macher

„Zu den Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie …“

Ich bin höchst erstaunt und erfreut über die unerwarteten Kollateralsegnungen des Erdbebens vom Wochenende. (1) Ganz Europa denkt über direkte Demokratie nach. (2) Durch die Eruptionen der Machtpolitiker aller Parteien entlarven sie sich als eben genau das (hüben wie drüben). (3) Das Ende der feigen SVP- und Blocher-Allergien, geschürt durch eine hasstriefende Linke scheint eingeläutet. Sogar Christen aus den Mitteparteien finden (leider erst nach der Abstimmung) den Mut, sachpolitisch und nicht angstgetrieben Stellung zu nehmen. (4) Es ist offensichtlich geworden: Nicht nur unser Volk denkt in vielen Fällen anders als ihre gewählten Vertreter und deren publizistischen Vasallen in vielen Medien. Hoffentlich halten die Segnungen an bis zu den nächsten Wahlen!

Nichts dazu gelernt!

Es ist erschreckend, wie nahe wir laut Markus Schär einem neuen Weltkrieg sind. In Erinnerung an den Ausbruch des ersten Weltkrieges vor 100 Jahren vergleicht er unsere friedlichste aller Zeiten mit damals und stösst dabei auf erschreckende Parallelen. Es fehlt eigentlich nur noch der äussere Anlass, dessen Möglichkeit Historiker im Nahen oder fernen Osten wähnen.

Richtiggehend furchterregend wird dieser Gedankengang zusammen mit der von Zoë Jenny angesprochenen gemeingefährlichen Erziehungsmethoden unserer Zeit. Sie schreibt in ihrem Essay: „Wenn das schwächste Mitglied der Gesellschaft zurückschlägt und gnadenlos Rache nimmt, ist das im Wesentlichen eine Folge fehlender Erziehung“. Wenn man dies eben nicht nur auf unsere jüngste Generation, sondern auf die benachteiligten Ethnien (wie Islamisten; Nordkoreaner usw.) bezieht, bleibt nur noch die Frage, wann das Pulverfass explodiert.

Quellen: Markus Schär, „Wiederholt sich die Geschichte?“, Weltwoche Nr. 1.14, S.44f / Zoë Jenny, „Tough love – Essay“, Weltwoche Nr. 1.14, S.49