Brauchen wir eine Theorie der Repetition?

Nichts Neues unter der Sonne / Von Salomos Sicht aus weiter denken

Unter dieser Überschrift veröffentlichte Linus Reichlin folgenden Artikel im Mai 2021:

„Dass es nichts Neues mehr unter der Sonne gebe, dachten ältere Leute schon immer. Aber noch nie dachten es so viele. Während früher die meisten Menschen starben, bevor sie das Gefühl hatten, alles schon zu kennen, leben heute 25 Prozent der Schweizer seit sechzig Jahren und länger. Das bedeutet, dass ein Viertel der Bevölkerung 70 Prozent aller Filme, die auf Amazon angeboten werden, schon einmal gesehen hat. Schlimmer noch: Ein Viertel der Bevölkerung hat auch die neuen Spielfilme irgendwie alle schon einmal gesehen, denn die erzählten Geschichten sind selten wirklich neu.

Ein Viertel der Bevölkerung hat demzufolge auch in der Buchhandlung Déjà-vu-Erlebnisse. Die Titel der Romane sind zwar jeweils neu, aber die Geschichten drehen sich stets um dasselbe: Familie, Beziehungen und Verbrechen. Und in keinem der neuen Romane steht etwas drin, was nicht schon in einem älteren Roman steht – es kann gar nicht anders sein! Denn es gibt nicht endlos viele mögliche Verbrechen, und auch die Liebe folgt einer bestimmten, endlichen Anzahl möglicher Verläufe.

Als ich jung war, bildete ich mir ein, das Verhaltensrepertoire des Menschen sei prinzipiell unendlich. Und die Romane, die ich las, gaben mir scheinbar recht: Denn fast jedes Buch behandelte ein für mich noch neues Thema. Jeder Film, den ich sah, sprach von etwas, was ich noch nicht kannte und von dem ich mir einreden konnte, dass auch niemand sonst es kannte. Doch jetzt, Jahrzehnte und zahllose Romane und Filme später, merke ich, dass der Erfindungsreichtum der Schriftsteller und Drehbuchautoren notgedrungen limitiert ist. Der Mensch ist nicht unbeschränkt interessant – wie also könnte es die Kunst sein?

Beschränktes Repertoire

Eine Freundin von mir, die seit dreissig Jahren als Psychotherapeutin arbeitet, sagte mir einmal, inzwischen habe sie alle psychischen Probleme, mit denen neue Patienten zu ihr kämen, in derselben oder in einer ähnlichen Form schon einmal gesehen. Man sollte meinen, das Feld seelischer Verirrungen sei riesig oder jedenfalls grösser, als dass es ein Therapeut in seiner Lebenszeit je ganz durchschreiten könnte. Aber das stimmt nicht. Die Grösse dieses Feldes reicht genau aus, um eine Therapeutin dreissig Jahre lang mit etwas zu überraschen, was sie noch nicht kennt. Aber nach diesen dreissig Jahren ist die Wundertüte leer. Ein Psychotherapeut, der 150 Jahre lang praktizieren würde, würde nach spätestens fünfzig Jahren in eine existenzielle Langeweile geraten und zu den Medikamenten greifen, die er sonst nur in schweren Fällen verschreibt.

Mit steigender Lebenserwartung wird das Problem nicht besser werden. Stirbt man mit fünfzig, nimmt man die Illusion mit ins Grab, dass es noch so viele interessante Romane und Filme gegeben hätte und noch so viele einzigartige Erlebnisse mit anderen Menschen! Stirbt man hingegen mit achtzig, weiss man spätestens seit etwa zwanzig Jahren, wie beschränkt das Repertoire des Menschen ist. Man wäre schon ab sechzig verzweifelt, hätte man nicht immer und unbelehrbar die Hoffnung gehabt, dass vielleicht doch noch etwas Neues kommt: eine Begegnung von noch nie dagewesener Intensität, ein Film, der einem die Augen für etwas öffnet, das man bisher völlig übersehen hat. Vielleicht erlebt der eine oder andere ja dieses Wunder – aber die meisten blicken jeden Tag der Repetition ist Auge.

Immerhin führt der Weg zur Repetition über wunderbare Erlebnisse des Neuen. Als ich zum ersten Mal mit einer Frau schlief, fühlte ich mich, als hätte ich gerade die Fortpflanzung erfunden. Ich war sicher, dass noch niemals ein Mensch vor mir etwas so Intensives empfunden hatte. Als ich später andere Frauen kennenlernte, staunte ich darüber, wie unterschiedlich sie waren. Das Leben war ein Füllhorn, gefüllt mit immer neuen Schwierigkeiten und Beglückungen. Doch mit vierzig lernte ich eine Frau kennen, mit der es dieselben Probleme gab wie mit zwei anderen Frauen vor ihr. Schlimmer noch: Es gab auch dieselben Beglückungen wie mit zwei Frauen vor ihr. Ich begann zu ahnen, dass man, wenn man älter wird, lernen muss, Repetitionen zu schätzen. Oder im besten Fall Varianten.

Doch glücklicherweise gibt es Dinge, die auch als Déjà-vu immer wieder überwältigend sind. Ein Bio-Cervelat vom Grill wird so lange immer wieder köstlich sein, bis man nur noch breiige Nahrung bei sich behalten kann. Eine neue Liebe mag bei genauer Betrachtung ähnlich sein wie eine andere Liebe vor ihr – aber man betrachtet es eben nicht auf diese Weise. Ein köstlicher Grill-Cervelat und eine schöne Liebe haben etwas Ewiges, das nicht der Abnutzung durch Repetition unterworfen ist. Die Freude darüber erneuert sich von selbst, beides ist praktisch etwas immanent Neues.

Permanentes Déja-vu

Neben dem Essen und der Liebe bleibt einem Viertel der Bevölkerung allerdings wenig – einem Teil dieses Viertels bleibt auch oft nur das gute Essen. Was gäbe man dafür, in der Oper wieder einmal so begeistert zu sein wie früher, als man die neue Inszenierung des «Barbiere di Siviglia» noch nicht mit den fünfzehn vorherigen Inszenierungen vergleichen musste, die man gesehen hat. Man möchte das Kino wieder einmal nachdenklich verlassen und nicht entgeistert darüber, dass die zumeist zwanzig Jahre jüngeren Filmkritiker den Film in höchsten Tönen gelobt haben. Sie attestierten ihm «eine neue Sichtweise auf die Liebe» – da kann ein Viertel der Bevölkerung nur auf den künstlichen Stockzähnen lachen! Eröffnen unsere dritten Zähne uns etwa «eine neue Sichtweise auf das Kauen»?

Die Medien sollten wissen, dass ein Viertel der Bevölkerung mit nichts mehr überrascht werden kann. Wenn man in seinem Leben schon ein Dutzend Spiegel-Titelgeschichten über «Lehrer – Sündenböcke der Nation?» gelesen hat, nützt es auch nichts, wenn die dreizehnte Titelgeschichte «Lehrer*innen – Sündenziegen der Nation?» heisst. Dadurch wird es nicht neuer.

Im Jahr 2100 werden 40 Prozent der Schweizer über sechzig Jahre alt sein. Spätestens dann wird man eine Theorie der Repetition brauchen, um zu erkennen, in welcher Weise ein so hoher Anteil von Menschen, die alles schon einmal gesehen haben, die Gesellschaft als Ganzes beeinflusst, insbesondere auch Kultur und Medien. Und man wird herausfinden müssen, wie man im Zustand des permanenten Déjà-vu ein glückliches Leben führen kann.“

Seit Salomo nichts dazu gelernt?

Christen sollten hier an erster Stelle mitsuchen, wie die Repetition im alltäglichen Leben die Weis- und Wahrheiten der Bibel und der Lehre von Jesus lebendig bleiben können. Denn der alte Viertel auch der Nachfolger sollte sich nicht zurückziehen aus der Gesellschaft, sondern für die anderen in derselben Kategorie Lösungen anbieten!