Mein Schmerz

Mark van Huisseling / Weltwoche 1.22, S.72

Wie hat Ihr neues Jahr begonnen? Hoffentlich nicht zu glücklich. Meins? Kann ich nicht sagen, denn geschrieben habe ich diese Zeilen noch im eben zu Ende gegangenen Jahr; das nennt man «Redaktionsschluss-Vorlauf» (und ist in Ordnung, ich kümmere mich ja weniger um neuste News). Nicht dass Sie jetzt meinen, MvH sei engherzig oder neidhaft. Bin ich nicht. Im Gegenteil, wenn Ihr Kolumnist seinen Leserinnen und Lesern nicht zu viel Glück wünscht, dann, weil er wohlmeinend ist, Sie werden sehen beziehungsweise lesen.

Bevor ich zum schmerzhaften Teil dieser Spalte komme, habe ich gute Nachrichten: Die Schweiz belegt Platz zwei auf der Liste «Die glücklichsten Länder der Welt» (Quelle: Tide, eine britische Finanzdienstleistungsplattform). Vor Norwegen, den Niederlanden und Schweden, aber hinter Dänemark. Davon abgesehen, dass die Länder mit dem höchsten happiness index score mehrheitlich schlechtes Wetter haben, ist zu erwähnen, dass solche Listen oft auf merkwürdigen Messgrundlagen fussen – weil die Urheber für etwas Reklame machen wollen, in diesem Fall für schnelle Internet-Anschlüsse –, was zu willkürlichen Ergebnissen führen kann (die Sache aber irgendwie reizend macht).

Doch ganz falsch ist auch diese Erhebung nicht, reiche Länder mit gutem Sozialsystem stehen oft an der Spitze von Befragungen nach dem Glück ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Anders sieht es dagegen aus, wenn’s um die Einschätzung geht, ein sinntragendes Leben zu führen – dann sind Menschen aus Sierra Leone, Togo, Senegal, Ecuador, Laos, Kuba und Kuwait obenauf (Quelle: Gallup, ein amerikanisches Meinungsforschungsinstitut). «Glücklich sein hängt mit dem Bruttosozialprodukt zusammen, aber es könnte dem Gefühl von Sinnhaftigkeit entgegenlaufen», kommentiert eine New Yorker-Schreiberin. Weiter sei es denn auch wenig überraschend, dass viele Menschen in wohlhabenden Nationen fänden, ihr Leben sei arm an Bedeutung. Oder wie Paul Bloom, Psychologieprofessor in Yale und Autor, in seinem neuen Buch «The Sweet Spot: The Pleasures of Suffering and the Search for Meaning» schlussfolgert: «Elend und Leiden sind, zu einem bestimmten Grad, wesentlich für ein reiches und sinnvolles Leben.»

Wer nun ableitet, die nächste Station auf diesem Weg sei, sich selbst zu geisseln, bekommt recht. In ihrem Buch «Hurts So Good: The Science and Culture of Pain on Purpose» (etwa «Tut wohlweh: Wissenschaft und Kultur von absichtlichem Schmerz») erklärt die Journalistin Leigh Cowart, die sich als Masochistin beschreibt, wie man den eigenen Körper überlisten kann, damit er Endorphine, «biologische Schmerztöter», ausschüttet, dank denen man sich besser fühlt – indem man ihn quält. Zwecks Recherche wollte sie etwa Teilnehmer eines Ultramarathons befragen, doch die Rennleiter verhinderten das (Begründung: Der Lauf sei zwar unbequem, doch das sei eine Begleiterscheinung, nicht das Ziel).

So weit zu rennen oder zu gehen, im übertragenen Sinn, ist weder nötig noch empfehlenswert. Bloom, der Psychologe, beschreibt seinen «Sweet Spot» als eine Art süsse Wegmarke, die zwar nur mittels Anstrengung und Risikobereitschaft erreichbar ist, aber keine unkritische Haltung gegenüber Qual und Schmerz erfordere. Und er erwähnt den Ikea-Effekt – dass bestimmte Leute willens sind, ein Möbelstück mühevoll selbst zusammenzubauen, und erst noch mehr dafür bezahlen im Verhältnis. Mit anderen Worten: Geistreiche Wege zu finden, um zusätzliche Reibung zu erzeugen, sei der sichere Pfad, unsere Tätigkeiten sinnvoller erscheinen zu lassen. Oder: «Besser leben dank der massvollen Beimischung von Schmerz.»

Womit wir bei einer solchen Sache angelangt sind, mit der ich vor einem Jahr oder so begonnen habe: Eisbaden. Um die körpereigene Abwehr zu stärken, meinte ich. Tatsächlich geht’s um mehr, vermute ich mittlerweile – um Erfüllung und Sinn im Leben et cetera, denn glücklich und ein wenig gefühllos (comfortably numb) sind wir Schweizer ja längst (Liste «Die glücklichsten Länder der Welt»). Wer am 15. Januar mit in den kalten Zürichsee steigen möchte, meldet sich bei MvH.