Rentner – Behinderte Langzeitarbeitslose

Das Rentnerdasein wird überschätzt. Die Leute denken immer: «Hui, wenn ich Rentner bin, mache ich endlich die vielen Reisen, die ich schon immer machen wollte!» Aber die Wahrheit ist: Alles, was man vorher nicht gemacht hat, macht man als Rentner erst recht nicht. Und die nächste Wahrheit lautet: Als Rentner ist man im Wesentlichen ein Arbeitsloser. Als mein Freund Bruno mal im Alter von 42 Jahren arbeitslos war, verbrachte er die meiste Zeit in seinem Garten und jätete. Jetzt ist er pensioniert und verbringt wieder die meiste Zeit in seinem Garten. Als er arbeitslos war, ging er jeden Tag wie früher, als er noch einen Job hatte, früh zu Bett und stand früh auf, um sich nicht gehen zu lassen. Jetzt als Rentner geht er ebenfalls früh zu Bett und steht früh auf, um sich nicht gehen zu lassen. Als Arbeitsloser begann er wie verrückt Englisch zu lernen, um sich weiterzubilden, und jetzt als Pensionierter lernt er wie verrückt Ungarisch, um sein Gedächtnis im Schuss zu halten. Der einzige Unterschied zu seinem früheren Arbeitslosendasein ist, dass er jetzt als Rentner keinerlei Hoffnung mehr hat, jemals wieder einen Job zu finden. Das Rentnerdasein ist also sogar die schlimmste Form der Arbeitslosigkeit, nämlich eine endgültige, unwiderrufliche und bis zum Tode dauernde Arbeitslosigkeit, die meistens noch einhergeht mit körperlichen Beeinträchtigungen. Pensionierte sind praktisch behinderte Langzeitarbeitslose.

Bruno kann ja beim Gärtnern das Schäufelchen gar nicht mehr richtig greifen, weil seine Finger ihm weh tun: Er hat Daumensattelarthrose. Wenn er sich bücken muss, um an niedrig wachsendes Unkraut ranzukommen, knacken seine Knie so laut, dass ich jedes Mal denke: «Ein Pferd in diesem Zustand würde man erschiessen.» Bruno sagt: «Das Gärtnern tut mir so gut, das glaubst du ja gar nicht!» Er meint die frische Luft, die regelmässige Bewegung, aber ehrlich gesagt: Das kann man auch als Gefängnisinsasse haben beim täglichen Hofgang. Ich will damit nur sagen, dass es ungefähr so viele Vorteile hat, pensioniert zu sein, wie es Vorteile hat, in der Wüste von Arizona nackt an einen Kaktus gefesselt zu sein. Na gut, das ist ein schlechtes Beispiel, denn wenn man nackt an einen Kaktus gefesselt ist, erlebt man immerhin etwas Aussergewöhnliches. Etwas, das man seinen Enkeln erzählen und sicher sein kann, dass sie auch wirklich zuhören.

Aber wenn Bruno seinen Enkeln erzählt, dass er vorhat, einen Nistkasten für Kohlmeisen zu kaufen, tippen seine Enkel auf dem Handy herum. Wen interessiert schon das Leben von körperlich beeinträchtigten Dauerarbeitslosen? In einem solchen Leben ist es schon ein berichtenswertes Ereignis, wenn beim Hausarzt ein neues Sonnenblumenfoto im Wartezimmer hängt. Ich bin der Einzige, der über so was überhaupt schreibt. Alle anderen Autoren machen einen riesigen Bogen um das Thema Rentner: Weil es so sexy ist, wie wenn Bruno sich in seinem blauen Gärtner-Overall am Hintern kratzt und sich dann mit einem Schmerzseufzer ins Kreuz greift, weil durch die Kratzbewegung irgendein Nerv eingeklemmt wurde.

«Du bist doch selber Rentner», sagt Bruno oft, «du weisst doch, wie das ist!» Gar nichts weiss ich. Und wenn ich etwas wüsste, würde ich’s nicht sagen. Es gibt auch aktive Rentner, aktive Arbeitslose, die niemals aufgeben, nie! Die so aussehen wie die Pensionierten in der Apothekerzeitschrift: vitale Kraftbündel auf Mountainbikes (der Satteldruck verkleinert die Prostata). Steven Spielberg hat mit 76 noch einen Film gedreht – natürlich nicht allein. Klar waren da Leute, die ihn daran erinnert haben, wo die Linse ist. Aber was zählt, ist der Wille, mit den Füssen voran von der Bühne getragen zu werden, ohne jemals eine Gartenschaufel in die Hand genommen zu haben!

Die Weltwoche (Ausgabe 13/2023) – UNTEN DURCH – Vitale Kraftbündel – Linus Reichlin – 29.03.2023