Ethik jenseits von Zwang (Robert Nef – NZZ 11.4.2011)

Ethik ist als Marktlücke entdeckt worden, und zwar durchaus im verwirrenden Doppelsinn des Wortes. Man kann einerseits dem Markt, auf welchem materielle Güter und Dienstleistungen getauscht werden, seine ethischen Defizite vorrechnen und andererseits in dieser Marktlücke auf dem Ideenmarkt seine eigenen Vorstellungen anbieten. Die ethische Frage «Was sollen wir tun?» ist tatsächlich zentral. Aber das Defizit liegt wohl weniger in der theoretischen Reflexion als in der täglichen Praxis, und manchmal macht es den Anschein, als müsse das eine das andere ersetzen. «Es gibt nichts Gutes, ausser: Man tut es» (Erich Kästner), und das Gute muss um seiner selbst willen getan werden und nicht, weil es zwingend vorgeschrieben wird. Die Ethik ist eine zu wichtige Sache, als dass man sie den selbsternannten Spezialisten, den Bindestrich-Ethikern und Propagandisten aus allen Sparten der Wissenschaft überlassen dürfte.

Leider werden in der allgemeinen politischen Kritik am Wettbewerb und am Markt als Prinzip und als Ort des Tauschens und Kommunizierens grundlegende Zusammenhänge von Freiheit, Wettbewerb und Lernen zu wenig beachtet. Die Alternative zum Markt ist – positiv ausgedrückt – der «Dienst nach Vorschrift», sei dies nun von Staates wegen oder als Vollzug einer gesellschaftlich sanktionierten ethischen Norm. Fremdbestimmende Vorschriften verleiten zur Umgehung oder Übertretung, und sie bieten einen ständigen Anreiz zur Korruption der Kontrolleure. Ein Leben nach selbstbestimmten ethischen Grundsätzen ist mit Verzichtleistungen verbunden. Das schmerzt gelegentlich, weckt Frustrationen und erzeugt manchmal auch Neid gegenüber jenen, welche von ihrem (aus unserer Sicht) unethischen Verhalten materiell profitieren. Daraus wird schnell einmal gefolgert, jedes hohe Einkommen und jeder grosse Gewinn bei andern sei letztlich unethisch und das eigene bescheidenere Einkommen sei eine direkte Folge von besonders hohen ethischen Ansprüchen, denen man selbst zu genügen glaubt. Was liegt nun näher, als den eigenen ethischen Standard in den Rang einer zwingenden Vorschrift zu erheben, um damit jene schmerzliche Differenz zu beseitigen, welche die «Ethischen» gegenüber den «Unethischen» («Abzocker» genannt) materiell schlechter stellt? Wer diesen Weg beschreitet, sieht das Heil in einer schrittweisen Überführung ethischer Standards ins zwingende Recht, sei es im Arbeits-, im Umweltrecht oder im Sozialrecht.

Dies ist aber ein gefährlicher Irrweg. Das allgemeinverbindliche und erzwingbare Recht garantiert einen minimalen Sockel an gemeinschaftsverträglichem Verhalten, ein ethisches Minimum, dessen Unterschreitung von Staates wegen bestraft wird. Viele Sozialethiker und ethisch besorgte Politiker glauben nun, sie könnten eine Gesellschaft «ethisch verbessern», indem sie mehr ethisches Verhalten gesetzlich vorschreiben und unethisches Verhalten verbieten und unter Strafe stellen. In einer funktionierenden und prosperierenden offenen Gesellschaft begnügt sich eine Mehrheit von Menschen (allerdings niemals alle!) keinesfalls damit, ihr Leben nur darauf auszurichten, nicht straffällig zu werden.

Es gibt jenseits der Strafvermeidung eine grosse Vielfalt von Motiven und Anreizen, sein Leben auch in ethischer Hinsicht auf die Bedürfnisse anderer auszurichten, freiwillig Verzicht zu üben und freiwillig mehr zu tun, als nur die staatlichen Zwangsnormen zu erfüllen. Der Anreiz für eine frei gewählte ethische Lebenspraxis sinkt aber, wenn der Sockel der staatlich erzwungenen Minimalethik angehoben wird. Zwang zerstört im Bereich der Ethik die Freiwilligkeit. Auch in der Ethik braucht es Wettbewerb. Wenn zu viel an Ethik erzwungen wird, degeneriert das Leben zum «Dienst nach Vorschrift» und zu einem Experimentieren an der Grenze des Erlaubten.

Die Ethik gehört ihrem Wesen nach in den Bereich des Freiwilligen. Tugenden können letztlich nicht erzwungen werden. Die Meinung, man könne und solle den allgemeinen ethischen Standard in einer Gesellschaft anheben, indem man möglichst viele «schwarze Schafe» durch Gesetze zu einem ethischen Verhalten zwinge, ist weit verbreitet. Sie liegt an der Wurzel verschiedener pendenter Initiativen, die sozialen Ausgleich durch Zwang und Reichtumsbesteuerung herbeiführen wollen.

Dahinter steckt im Grunde genommen ein Materialismus, der im Widerspruch steht zu einer Vorstellung, welche auch eine «Ökonomie» jenseits des Materiellen anerkennt. Es gibt auch im Bereich des «lebensdienlichen Verhaltens» einen Wettbewerb, der auf der Privatautonomie beruht. Dessen «Jury» ist allerdings in einer liberalen, offenen Bürgergesellschaft nicht ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde, es sind die Beteiligten und die Betroffenen selbst, die das Resultat immer wieder beurteilen und die Konsequenzen ziehen und tragen müssen, sowie eine sensible Öffentlichkeit, die durch freie, ebenfalls konkurrierende Medien informiert wird und so darüber wacht.

Wer sich freiwillig ethisch verhält, sich an selbstgewählten Standards misst oder allenfalls mit Vorbildern wetteifert, braucht nicht ständig auf das ethische Defizit im Verhalten anderer zu schielen und auf das Geld, das möglicherweise dabei verdient wird. Menschen, die ihre ethischen Ansprüche in erster Linie an sich selbst stellen und nicht an andere, sind in der Lage, Frustration und Neidgefühle zu überwinden und auf alle materiellen Kompensationen und – was noch schwerer wiegt – oft auch auf den Anspruch auf Dank und Anerkennung zu verzichten. Sie werden das, was man heute Solidarität nennt, auch mit ihren eigenen Mitteln praktizieren und nicht via staatlichen Zwang mit denen ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Drei Ergänzungen sind mir dazu spontan eingefallen:

1)      Man darf diese Freiwilligkeit nicht in die Kinder- und Jugendzeit ausdehnen. Die Jugendlichen sollen sowohl mit Zucker und Peitsche, mit Regeln und kreativen Ideen zum ethischen Handeln hingeführt werden. (vgl. die lustige Idee unter http://www.youtube.com/watch?v=2lXh2n0aPyw )

2)      Wie das ausgezeichnete Buch von Eugen Sorg (Die Lust am Bösen – warum Gewalt nicht heilbar ist) aufzeigt, wird diese Freiheit immer von einzelnen, „bösen“ Menschen ausgenutzt und manipuliert. Die im letzten Kapitel herangezogene Geschichte von Frisch (Biedermann und die Brandstifter) ist dafür eine geniale Illustration.

3)      Wenn nicht mit Zwang – womit sonst? Wie kann ethisches Handeln gefördert werden? Das biblische Motto „lass die Rechte nicht wissen was die Linke tut“ (nein, nein, nicht politisch deuten ;-)) verdeutlicht, dass hier kaum mit Vorbildfunktion gehandelt werden darf, wohl weil Wohltätigkeit wie Macht schnell den Ausübenden korrumpiert.